Welche Bedeutung hat die Zeit?

Es ist tatsächlich nichts mehr erforderlich als eine neue Zeit-Politik, eine Revolution des gesellschaftlichen Zeitregimes, welches den Schutz und die Entfaltungsmöglichkeiten der jeweiligen Eigenzeit einbezieht, psychologisch, kulturell, wirtschaftlich. Denn es häufen sich die Probleme, die sich aus der Bewirtschaftung der Zeit ergeben, und die alle mit der Rücksichtslosigkeit gegenüber der Eigenzeit zu tun haben. 

Erinnert sei hier an die durch Beschleunigung bei Produktion, Konsum und Mobilität verursachten Umweltschäden, an die Phänomene der Verwahrlosung in der Folge des medialen Trommelfeuers, an den konfliktträchtigen Gegensatz zwischen der beschleunigten Industriewelt und der unfreiwilligen Langsamkeit der armen, unterentwickelten Welt; und an die immer häufiger auftretenden Zeitpathologien, die Depressionen und Hysterien, die entstehen, wenn der Einzelne zu stark unter Strom gesetzt oder leer und ausgebrannt zurückgelassen wird.

Auch wenn umstritten bleiben muss, wie eine Zeit-Politik im Einzelnen aussehen sollte und vor allem, wie sie durchgesetzt werden könnte, sind wird doch an einem Punkt angelangt, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte, wo die Zeit und die Berücksichtigung der jeweiligen Eigenzeit zu einem Objekt der Politik werden muss. 

Der Umgang mit der Zeit war natürlich auch schon früher ein Thema in den politischen Auseinandersetzungen, etwa beim Kampf der Arbeiterbewegung um den Achtstundentag. Doch gegenwärtig wird der Faktor Zeit und Eigenzeit auf neue Weise politisiert, wenn Entschleunigung von Produktion, Kommunikation und Konsum gefordert wird dort, wo die schädlichen Nebenfolgen überwiegen, wenn es um Synchronisierung der öffentlichen Zeit mit den individuellen Lebensrhythmen geht, im Arbeitsleben und in der Schule, oder um Nachhaltigkeit. 

Die Idee der Nachhaltigkeit entstammt aus der zunehmenden Sensibilität für die jeweilige Eigenzeit von Lebensprozessen. Sie bedeutet ganz einfach, Zeit zu lassen und zu geben, damit etwas nachwachsen kann – in der Natur, aber auch unter den Menschen. 

Peter Glotz hat vor einigen Jahren prognostiziert, dass die Frontlinie der künftigen Kulturkämpfe in den westlichen Industriestaaten zwischen den Beschleunigern des digitalen Kapitalismus und den Entschleunigern verlaufen werde. Man muss kein Prophet sein, um die Beschleuniger einstweilen im Vorteil zu sehen. Sie sind mit der technischen Dynamik und den Grundprinzipien des Wirtschaftslebens im Bunde, Homo oeconomicus und Homo technicus bleiben vorherrschend. Die Technik ist immer noch der Taktgeber des allgemeinen Lebenstempos.

Wenn künftig zehn Milliarden den Lebensstil pflegen, den man sich hierzulande angewöhnt hat, dann ist die Lebensgrundlage von allen bedroht.

Wer im Zuge der modernen Beschleunigung der knappen Zeit möglichst viel Lebensgewinn abringen will, der erreicht auf lange Sicht das Gegenteil, denn die Zeit wird erst recht knapp, wenn es um die Bewältigung der gigantischen Probleme geht, die als Folge dieser Beschleunigung auf uns zukommen. 

Es wird darauf ankommen, andere Arten der Vergesellschaftung und Bewirtschaftung der Zeit zu entwickeln und durchzusetzen. Zeit und Eigenzeit werden dabei notwendig zum politischen Thema. Es geht um den Gewinn von Zeitsouveränität und um die Bewahrung der Vielfalt von Eigenzeiten. Individuell kann man jetzt schon einiges dafür tun, wenn man nur aufhört, sich immer nur auf die objektiven Zwänge hinauszureden. Man weiß ja ziemlich, was einen hetzt, was einem die Zeit stiehlt, wo man sie verschwendet, wem man sie schenken sollte, wie man sie besser verwenden und genießen könnte und wann man sie sich lassen sollte. 

Quelle:

Rüdiger Safranski (2017) Zeit – was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, 3. Auflage, S. 180ff.

Institut für Konsum- und Nachhaltigkeitsforschung

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